Leben für den Augenblick
Die TheaterschaffT um Jan Jochymski (Dramaturgie) und Stefan Ebeling (Regie) hat mit dem Societaetstheater einen neuen Spielort in Dresden gefunden und präsentiert zum ersten Gastspiel in der inneren Neustadt ihre Inszenierung "Augenblick des Glücks" nach Ingo Schulze. Ein starkes Stück einer starken Off-Truppe, die anspruchsvolles Theater von hinten durch die Brust von Boulevard und seichter Unterhaltung bietet.
Fast leer die Bühne, Tapete auf einem (mobilen) Würfel von Gartenlaubenformat, ein mumifizierter Blumenstrauß sind Reste früherer Zivilisation in einem abgewohnten Quartier, zu dem man sich offenbar mit Anwendung sanfter Gewalt Zutritt verschaffen muss. Voran, wie sich herausstellt, Herr Friedrich (Andreas Guglielmetti) aus Stuttgart, der sich zwecks Herausgabe eines Anzeigenblattes hier eingemietet hat. Er trägt äußerst dezentes Grau, wie sein weibliches Personal, das gleich mehr für Ordnung sorgt, als ihm lieb ist, Platz schafft für spartanischste Designermöbel. Auch fachlich erweisen sich die jungen Damen (Katja Rogner, Ulrike Haase, Natalie Hünig) an ihren schicken Notebook-Attrappen anscheinend als überaus versiert und anstellig; wie sie simultan telefonieren, tippen, scrollen und dabei noch mancherlei im Blick haben, ist schon eine kleine Sinnenweide. Dabei offenbaren sie schon bald auch Eigenheiten, die Friedrich etwas verstören, doch lässt er im Sinne dessen, was er für modernes Management hält, gewähren: Hauptsache die Arbeit läuft. Doch diese Belegschaft scheint nicht nur eigenartig übermotiviert. Sie übernimmt alle Arbeiten, die sie sich irgendwie zutraut, aber kein Geld vom Chef für besondere Leistungen oder gar als Ausgleich für die Einladung zum selbstgekochten Mittagessen. Sie macht das Büro zum Lebensmittelpunkt, zu einem Biotop, in dem sich bald auch ein asozialer Akkordeonspieler (Oleg Nehls), ein abgewiesener Liebhaber (Detlef Gohlke) und eine rätselhafte junge Frau (Olga Soldatowa) ansiedeln...
Solche Milieustücke haben ein bisschen Konjunktur, man denke an "Dirty Dishes" oder "Sekretärinnen" - aber hier ist man in St. Petersburg (oder einer beliebigen großen Stadt des großen Russland) und es geht nicht nur chaotisch und reichlich skurril zu. Es wird gelebt ohne Wenn und Aber, geliebt mit Hindernissen und Widerhaken. Wiedergegeben wird es mit professionellen theatralischen Mitteln, die zum Teil dem Musical und gelegentlich dem Kabarett entliehen sind, sich aber nicht verselbständigen oder zum totalen Ausflippen führen. Hier bleibt letztlich alles auf dem Boden einer genau beobachteten Realität, die trotz der teils völlig anderen Verhältnisse Rückkopplungen zu eigener Erfahrung provoziert, weil sich zumindest für unsereinen vieles verblüffend gut nachvollziehen lässt. Denn worum geht es? Um Wertesysteme und -vorstellungen, Marktwirtschaft, Globalisierung. Ums simple alltägliche Zusammenleben, um Arbeit, Liebe, Brot und Spiele. Spielerisch selbst dann noch, wenn beim Aufblasen einer Luftmatratze philosophiert wird.
Schadenfreude gegenüber dem West-Unternehmer, der mit seinen Vorstellungen von Wert und Ordnung oft hilflos wirkt, kommt nur bedingt auf. Guglielmetti spielt ihn nicht nur so brillant, dass karikierende Überspitzungen schlicht überflüssig sind und die mentalen Unterschiede ohne Denunziation deutlich werden, sondern auch glaubhaft engagiert. Und so ist er nicht zuletzt irgendwann verfangen in eine Beziehungs-Kette innerhalb der Bürogemeinschaft, in der nach Heine leicht das eine oder andere Herz entzweibricht - das macht das Herz des Zuschauers weich und vielleicht offen dafür, sich in andere Lebensmuster hineinzudenken, wertvoll im Sinne von Verständnis, aber vielleicht auch von Überlebenstraining.
Das am Ende, wenn das Chaos überhand nimmt, die Seiten der Zeitung leer bleiben, und Friedrich kapitulieren will, ausgerechnet der Leitung in Stuttgart die rettende Lösung einfällt, ist eine schöne Ironie des Schicksals. Wenn der Akkordeonspieler das erste Mal richtig den Mund aufmacht, bringt er es auf den Punkt: Du kannst zwar die Welt verändern, aber du weißt nie, wie es ausgeht. Die TheaterschaffT zeigt auf sehr unterhaltsame Weise, dass es sich gerade deshalb lohnt es zu versuchen.
Tomas Petzold, Dresdner Neueste Nachrichten, 5. November 2005