Ingo Schulze: Die dritte Geschichte aus "33 Augenblicke des Glücks"
Wie oft hatten wir zu den Rundbogenfenstern aufgeschaut, deren samtene rote Vorhänge die Zimmer verhüllten wie ein kostbares Geschenk. Wie oft hatten wir versucht, uns den triumphalen Blick vom Balkon der zweiten Etage auf die Anitschkow - Brücke vorzustellen, oder, je nach Kopfwendung, den Newski hinab oder hinauf oder auf die Anlegestelle vor uns unter den Pappeln. Den flachen Schiffen wären unsere Augen bis zum Scheremetjew - Palais gefolgt oder, in entgegengesetzter Richtung, bis zur Fontanka - Biegung. Aus diesen Räumen an die schmiedeeiserne Balkonbrüstung zu treten, kam der Abnahme einer Parade gleich und würde unweigerlich die Huldigung der Menge hervorrufen, die hier, von Ampeln gestoppt, zu unseren Füßen verweilte. Es war nicht zu bestreiten: Wer an dieser Stelle der Stadt über den Köpfen der Menschen erschiene, besäße ein Charisma, wie es sonst nur die Geburt verleiht.
Und hier sollte die Tafel mit dem Schriftzug unserer Zeitung leuchten. Die Besitzer der Wohnung hatten sich hinhalten lassen, sie hatten sich in unglaublicher Weise ein halbes Jahr hinhalten lassen, und es schien sich zu bewahrheiten, was ich immer geahnt hatte: Solche Gemächer betritt unsereiner nur im Traum oder als Gast. Dann aber waren die vierzigtausend Dollar gekommen, und Ende April zogen wir die Vorhänge von den Fenstern zurück.
Ich sah alles schon vor mir. Das mittlere, zum Newski gelegene Zimmer plante ich als Empfangsraum für Inserenten, Autoren und Leser. Für das Eckzimmer, wo mein Tisch neben der Balkontür Platz finden sollte, hatte ich das Layout vorgesehen. Mit dem kleinsten Raum müssten die Journalisten vorlieb nehmen. Bad und Klo waren eng. Dafür bot die Küche genügend Platz für gemeinsame Besprechungen. Was ich nicht erwartet hatte aber war, dass der Gestank des Treppenhauses an der Wohnungstür endete, als entströme unserer neuen Bleibe ein unaufdringlicher, frischer Duft nach Licht, nach Wärme, nach Meer und einem schwer zu bestimmenden, blumigen Extrakt, der sich entweder über viele Jahrzehnte in diesen Wänden gehalten hatte, also vom Aroma junger adliger Fräuleins zeugte, oder unserer Verzauberung durch diese Wohnung entsprang. Vielleicht wehte der Duft aber auch durch die Fenster herein, vor denen sich das Gurren der Tauben mit dem ersten Rauschen des Laubs und dem Klatschen der Wellen an der Anlegestelle mischte.
So gab es beste Voraussetzungen, das zu schaffen, was sich jeder Unternehmer wünscht, wenn er kein Halunke und Beutelschneider ist, nämlich dass seine Belegschaft die Firma als ihr zweites Zuhause betrachtet. Entgegen meinem Wunsch, einen Malerbetrieb zu beauftragen, sprachen sich alle anderen dafür aus, die Renovierung selbst zu übernehmen, natürlich am Wochenende oder an freien Tagen. Ich biss mir auf die Zunge, denn eine Initiative von unten abzuwürgen, wäre im Verständnis modernen Managements eine unverzeihliche Torheit gewesen, zumal wir dabei noch Geld sparten.
Trotz unserer üblichen Nachtschicht am Donnerstag versammelten wir uns freitags um fünfzehn Uhr. Sogar die Redakteure waren gekommen. Das war um so verwunderlicher, als es sich mit der Zeit durchgesetzt hatte, dass sie nur noch telefonisch die Artikel ihrer Ressorts ankündigten, sich flüchtig absprachen und immer weniger bereit waren, ihre Text selbst in die Computer einzugeben. Sie beriefen sich auf meine Devise, nach der Artikel allein dazu bestimmt waren, den Platz zwischen den Anzeigen zu füllen. Deshalb wussten sie nie, ob ihre Beiträge auch wirklich erscheinen würden. Ab Juni, spätestens ab Juli, sollten sie Honorarverträge erhalten. Dafür würde ich eine zusätzliche Sekretärin einstellen. Bei den Angestellten ließ man mir freie Hand, da es auf fünfzig Dollar monatlich mehr oder weniger nicht ankam. Wir waren so viele, dass die wenigen Abwaschbürsten, Eimer, Spachtel und Pinsel nicht reichten. Erst am Sonnabend konnte in jedem Raum gearbeitet werden. Schon am folgenden Freitag bezogen wir die Küche. Ich gab Tanja und Ljudmila Geld, um Geschirr, Besteck, Gläser und eine Kaffeemaschine zu kaufen, eine Investition, die sich auszahlen würde, wie ich glaubte. Kaum waren sie wieder zurück, packte jeder, wie auf Verabredung, etwas zum Essen aus - im Nu war der Tisch gefüllt, und wir tranken und erzählten bis in die Nacht. Ich versuchte, in all dem Trubel klaren Kopf zu bewahren, und war bestrebt, diese Stimmung möglichst lange zu halten. Nie zuvor hatte es so viele Vorschläge zur Optimierung des Arbeitsablaufes und zur Verbesserung der Zeitung gegeben.
Wir setzten unseren Ehrgeiz daran, schon die nächste Ausgabe in diesen Räumen herzustellen, und nutzten den Mittwoch, der ein wichtiger Produktionstag war, zum Einräumen und Fensterputzen. Niemand staunte, dass wir, trotz eines ungewöhnlich hohen Werbeaufkommens und eines fehlenden Tages, früher fertig waren als sonst. Ja, wir hätten am Donnerstag schon vor Mitternacht nach Hause gehen können, wären nicht die Probleme mit dem Drucker gewesen. Endlich hatte es gezündet! Nun sollte ein neues Leben beginnen. Kam ich gegen zehn zur Arbeit, traf ich nicht wie früher nur Tanja, unsere Sekretärin, an - sie war gerade erst siebzehn geworden -, sondern fand bereits die drei Plätze am Computer besetzt. Hatte sich zuvor niemand für das Telefon verantwortlich gefühlt, wenn Tanja einmal nicht im Zimmer war, so geschah es jetzt häufiger als mir lieb war, dass die Journalisten oder die Mädchen vom Layout, Ljudmila und Irina, den Hörer abnahmen. Die Freude und das Engagement jedes einzelnen Mitarbeiters waren sogar noch am anderen Ende der Leitung spürbar.
Tanja hingegen durchstreifte jetzt halbe Tage die Läden und Märkte, um preiswert Fleisch, Gemüse, Honig, Käse, Eier, Butter und Zutaten für Borschtsch, Soljanka, Pelmeni, Pizza, Rouladen und Pasteten zu kaufen. Als Sekretärin war sie faktisch überflüssig geworden. Ich unternahm nichts dagegen, denn unsere Mittagessen waren der unbestrittene Höhepunkt eines jeden Tages. Es schmeckte nicht nur phantastisch, es war auch billiger, und die regelmäßige Ernährung tat allen gut. Blieb etwas übrig, gaben sie es mir mit, und ich kam auf diese Weise zu einer weiteren warmen Mahlzeit. Last but not least, oder, w konze konzow, wie die Russen sagen: das Kollektiv, das Team wurde durch die gemeinsamen Essen zusammen-geschmiedet.
Obwohl wir weiß Gott nicht nur über die Arbeit sprachen, erledigten sich die Redaktionssitzungen auf diese Art von selbst, die Abstimmung zwischen Außendienst und Anzeigensatz klappte hervorragend, und jede Anregung, egal, ob sie aus dem Vertrieb kam, von Lesern, Autoren oder Kunden - jede Anregung wurde aufgegriffen, weiterentwickelt und schien sich von selbst umzusetzen. Sogar unsere Honorarautoren hatten das veränderte Klima schnell erfasst und stellten sich nun besonders gern zwischen drei und vier Uhr nachmittags ein. Anständiger Weise waren die meisten von ihnen dazu übergegangen, sich durch wertvolle Naturalien, die entweder durch langes Anstehen oder nur zu Wucherpreisen erhältlich waren, an unseren Essen zu beteiligen. Deshalb wurden sie nicht nur geduldet, sondern regelrecht erwartet, weil sie einmal Auberginen, ein anderes Mal Fleisch oder Fisch, ein drittes Mal Pelmeni mitbrachten. Selbst zwischen Nichtrauchern und Rauchern herrschte ein Abkommen, das konsequent eingehalten wurde und weder die Arbeit noch die Gemütlichkeit oder, sagen wir besser, die Häuslichkeit störte. Das eine ruhte im anderen, und je nach Tageszeit verschob sich nur der Akzent.
Unser Umsatz stieg spürbar. Die Firmenleitung in Deutschland beglückwünschte uns zu dem Ruck, der durch die Mannschaft gegangen sei, sprach von dem erwarteten Aufschwung und gewährte mir freie Hand bei der Prämienvergabe - natürlich im angemessenen Rahmen. Selten zuvor hatte mich eine Arbeit so befriedigt. Abends, wenn die Sonne wie ein Emblem über unserem Haus stand und das Bjelosselski-Bjelosserski-Palais gegenüber rot erglühte, rauchte ich auf dem Balkon eine Zigarette und blickte stolz auf den Newski zu meinen Füßen. Dieses goldene Zeitalter währte knapp drei Monate. Anfang August bemächtigte sich meiner eine Unruhe, die ich mir damals aus verschiedenen Ursachen zusammengesetzt erklärte. Vor allem lag ihr wohl eine gewisse Überarbeitung zugrunde. Denn als die Ferienzeit bei uns ihren Höhepunkt erreichte, das erwartete Sommerloch aber ausblieb und der Umsatz kaum absank, wurden wieder Nachtschichten notwendig - die ersten in unseren neuen Räumen -, und ich verschob meinen Urlaub abermals. Sicherlich war es unklug, dass ich mich, nun schon seit einem Jahr, für unentbehrlich hielt, obwohl die Stimmung in der verkleinerten Mannschaft gelöst blieb und gut.
Sonja, deren Mann, ein Panzeroberst, vor zwei Jahren gestorben war und deren Tochter Polina den launischen, arbeitslosen Verlobten mit in die Wohnung gebracht hatte, übernachtete jetzt hin und wieder in der Redaktion, weil die letzte Metro längst gefahren war und sie damit die drei Stunden für Hin- und Rückweg sparte. Kam ich dann morgens, hatte sie bereits Tee gekocht, die Wohnung gewischt und das Geschirr abgewaschen. Ende September, die Ferienzeit war ausgestanden, verschob ich meinen Urlaub erneut. Meine Unruhe war nicht verschwunden, im Gegenteil, sie hatte zugenommen. Obwohl wir wieder vollzählig waren und keine höhere Seitenzahl als in früheren Monaten zu bewältigen hatten, blieben die Nachtschichten. Nach jedem Urlaub ist das Bedürfnis zu erzählen besonders groß, und jeder braucht Zeit, sich wieder an die Arbeit zu gewöhnen. Das ist auch in Deutschland nicht anders. Aber als sich die Nachtarbeit sogar auf den Mittwoch auszudehnen begann, war klar, dass ich handeln musste, zumal offensichtlich niemand außer mir an dieser Entwicklung Anstoß nahm. Ich stellte Pläne auf, die großzügig gehalten waren und dennoch am Donnerstag um neunzehn Uhr endeten. Jeder sollte jetzt ein Stück Verantwortung tragen.
Als ich Mitte Oktober eine neue Kartusche in den Drucker einsetzen wollte und den Schrank mit den Arbeitsmaterialien öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Gut geordnet lagen da Tischdecken, Servietten, Bettzeug, Handtücher, Taschentücher, Wischtücher, Kosmetikbeutel, Damenstrümpfe und Unterwäsche. Hinter Vasen, Untersetzern, einem Mokkaservice und Kuchengabeln fand ich unseren Vorrat an Papier und schließlich auch die Kartusche. Ich nahm die vier Damen beiseite und forderte eine Erklärung. Aber sie wussten nicht, was sie erklären sollten. Dass sie öfter die Nacht hier verbrachten, ja dazu genötigt waren, wüsste ich doch. Daran würde auch mein Plan nichts ändern, und ein bisschen Gemütlichkeit sei doch schön. Alles weitere ergebe sich von selbst. Sie boten mir aber an, die Unterwäsche und was Frauen sonst noch für die persönliche Pflege benötigen, hinter die Bettwäsche zu legen. Mit dem Zustand des Bades, das zwar sehr sauber war, aber irgendwie an einen Frisiersalon erinnerte, fing ich erst gar nicht an. Natürlich hatte ich nichts dagegen, dass auf der Toilette die Straßenschuhe standen und die Frauen in der Redaktion in Sandalen oder Hausschuhen herumliefen. Waren es aber anfangs jeweils nur vier Paar gewesen, so verdoppelte sich binnen kurzem ihre Zahl. Nach diesem Gespräch wurde ich den Eindruck nicht mehr los, dass sie über mich tuschelten und kicherten.
Sosehr ich den früheren Zustand beschwor und geschickt Prämien ansprach, die ich bis an die Grenze des Möglichen ausgeschöpft hatte, die Auslastung der Arbeitszeit verschlechterte sich von Tag zu Tag. Die Essen aber dehnten sich derart aus, dass zwischen drei und sechs so gut wie nichts mehr passierte. Danach wurde Tee gekocht und Gebäck gereicht. Zwar erfüllten sie ihr tägliches Pensum, doch über die Arbeitsstunden war damit noch nichts gesagt. Wollte ich die Frauen nicht selbst mit dem Auto nach Hause bringen - ein Zeitaufwand von mindestens drei Stunden -, konnte ich gegen ihre Übernachtungen in der Redaktion nichts einwenden. Das Risiko, sie einfach vor die Tür zu setzen, war zu groß. Außerdem waren mir die Hände umso mehr gebunden, als alle, von der Sekretärin bis zum Redakteur, nicht nach Stunden bezahlt wurden, sondern nach Umsatz bei pünktlich abgelieferter Zeitung. Pünktlich bedeutete Freitag früh um sieben. Damit brachten sie es jetzt schon auf siebzig bis neunzig Dollar pro Monat. Aber das war doch kein Arbeiten mehr. Bei Boris und Schenja, den Redakteuren, und Anton, dem Fotografen, fand ich ebenfalls kein Verständnis. Solange die Frauen ihre Arbeit machten und noch den Haushalt schmissen - schon allein diese Redewendung sagte alles -, sollte ich zufrieden sein. Sie blieben nur deshalb nicht über Nacht, weil sie Familie und Auto hatten. Da sie aber nichts heimzog, griff der Schlendrian auch auf sie über.
Regelmäßig unterbrachen sie jetzt ihre Arbeit, um in die Banja zu gehen. Kamen sie wieder, wurde erst mal getrunken - und dann schliefen sie meist an den Schreibtischen ein. Die Frauen umsorgten sie wie Helden. Dabei konnte sich die Zeitung, die sie ablieferten, sehen lassen, auch wenn es mitunter an der letzten Sorgfalt mangelte. Ich wusste einfach nicht, wo ich den Hebel ansetzen sollte. Was wollte ich gegen einen Kühlschrank vorbringen, gegen eine selbstgebastelte Duschecke mit Vorhang, gegen die Teppiche in den Arbeitsräumen, gegen das Klappsofa, das sie im Empfangszimmer platzierten, gegen das Bücherregal und die Reproduktionen der alten Ansichten von Petersburg? An einem Morgen Anfang November, ich kam etwas früher als sonst, waren die Frauen gerade damit beschäftigt, wieder die roten samtenen Vorhänge anzubringen, die ich eigenhändig bei unserem Einzug in den Müll geworfen hatte. Von den Jalousien zeugten nur noch die Haken über den Fenstern. Nun war die Gelegenheit zum Einschreiten gekommen, endlich! Die Vorhänge seien neu genäht, der Stoff so gewählt, dass er zumindest farblich dem alten entsprach. Die Atmosphäre, so erfuhr ich, sei zu kalt und unpersönlich mit Jalousien. Nur zwei Wochen hätten sie gebraucht, erklärten sie stolz, nur zwei Wochen vom Maßnehmen und Kaufen bis zum letzten Nadelstich. Die Jalousien störten beim Aufhängen, danach kämen sie selbstverständlich wieder an ihren Platz. Aber hätten sie es mir denn nicht vorher sagen können? Es sollte doch eine Überraschung sein, wirklich, eine Überraschung. Wie konnten sie wissen, dass ich mich nicht darüber freuen würde, wer hätte denn so etwas geahnt, sich nicht freuen und noch schimpfen. Sonja schossen die Tränen in die Augen. Bezahlt war alles vom Geld ihrer Prämien. Es sollte die Firma nichts kosten.
Natürlich steht man als Chef immer irgendwie allein da, ist ausgegrenzt vom Leben der anderen. Das ist normal und hat auch seine Berechtigung, doch war für mich diese Erfahrung in Russland neu. Mir wiederum warfen sie vor, ich würde mich mehr und mehr von der Gemeinschaft absondern. Ich ginge auf keine Einladung mehr ein, stünde immer als erster vom Tisch auf, machte ein mürrisches Gesicht, lachte über keinen Scherz mehr, würde immerzu auf die Uhr zeigen, und Lob hätte ich schon gar nicht mehr für sie, obwohl die Artikel, die Gestaltung, die Anzeigen, der Service und der Vertrieb in der Stadt ihresgleichen suchten. Oder hätte ich Probleme zu Hause? Ich gehe leidenschaftlich gern in die Banja, liebe gutes Essen und beteilige mich auch selbstverständlich an einer interessanten Unterhaltung. Aber ich bin es gewohnt, die Arbeit so effektiv wie möglich zu gestalten, um dann die freie Zeit zu genießen, von mir aus in der Sauna oder beim gemeinsamen Essen.
Das Sprichwort "Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps" hat schon seine Richtigkeit, auch wenn es simpel klingt. Ich war in einer fürchterlichen Lage. Entweder machte ich diesen zermürbenden Trott mit und kam so gut wie gar nicht mehr aus der Redaktion und zum Schlafen, oder ich ließ alle fünfe gerade sein. Doch der Kapitän geht immer als letzter von Bord. Nicht mal mehr am Wochenende fuhren die Frauen heim. Sie machten sauber, wuschen ihre Wäsche, gingen nachmittags spazieren und Eis essen, abends dann ins Konzert, Kino, manchmal zum Tanzen. Der Rückweg zur Redaktion war immer kurz. Die Frauen von Boris und Schenja, denen das Ausbleiben ihrer Männer rätselhaft vorkam, übten sich darin, sie unerwartet zu kontrollieren. Das führte dazu, dass sie dann erleichtert und glücklich bei uns in der Küche sitzen blieben, die Gemütlichkeit lobten und aufgekratzt plapperten, anstatt ihre Gatten mitzunehmen. Diese wiederum warteten jetzt regelrecht auf ihre Frauen und spielten Schach, nachdem sie ihr Pensum geschafft oder auf den nächsten Tag verschoben hatten.
Auch die Hausbewohner nahmen Anteil an dem lustigen Leben meiner Belegschaft, klingelten unter dem Vorwand, ihnen sei das Salz ausgegangen oder sie hätten den Schlüssel verlegt und müssten die Rückkehr ihrer Frau abwarten. Natürlich wurde ihnen Tee angeboten, und solange Besuch da war, galt es als unhöflich zu arbeiten. Kreuzte schließlich die Ehefrau mit dem Schlüssel auf, plauschten sie gemeinsam noch zwei Stündchen, nicht ohne sich am Ende als schreibende Mitarbeiter zu empfehlen. Die Honorare, die wir im Laufe der Zeit an Nachbarn und deren Verwandte zahlten, hätten zur Sanierung des Treppenhauses ausgereicht. Ich schuftete indes, um den Leuten durch mein Vorbild zu bedeuten, dass es auch anders ginge.
Sogar Tipparbeiten übernahm ich, was auf der kyrillischen Tastatur einen Haufen Zeit kostete. Doch wie alle anderen Maßnahmen verpuffte auch diese. Im Gegenteil. Verdrehte Augen und Schulterzucken waren noch die freundlichsten Reaktionen. Tanja zählte mir meine Fehler auf, und Anton, der Fotograf, fand es nicht in Ordnung, dass ein Chef sich in Arbeit einmischte, von der er nichts verstand. Er zitierte mich: dass es egal sei, wann man eine Zeitung mache, Hauptsache, sie sei gut und erscheine pünktlich. Immer, wenn ich antworten wollte, war mein Kopf wie leergeblasen. So fiel mir auch kein passendes Argument ein, als sie stolz einen tragbaren Fernseher präsentierten, natürlich nur, um die aktuellen Meldungen noch aufzufangen - und das bei einer Wochenzeitung! Der schwarze Kater, der anfangs sein Näpfchen vor unserer Eingangstür hatte, schlief jetzt in der Küche - es war Winter. Oder wollte ich, dass er erfriere? Die Nachbarn klingelten sogar, wenn Blintschik, so hieß er, vor unserer Tür saß.
An einem Sonntag Anfang Dezember, ich hatte vergessen, ein Fax abzusenden, betrat ich vormittags die Redaktion. Aus dem Empfangszimmer drang ein Wimmern. Alle vier Damen umstanden das Sofa, auf dem eine alte Frau lag. Man zischte mir zu, um Himmels willen leise zu sein, der Arzt sei schon verständigt, Irinas Großmutter sei zu Besuch gekommen und fühle sich nicht wohl. Die ganze Nacht habe sie gestöhnt, sie hätten kaum schlafen können. Am Dienstag starb die Großmutter, Gott sei Dank nicht in der Redaktion. Aber ihr Tod reichte aus, das Erscheinen der nächsten Nummer ernsthaft zu gefährden, sosehr nahm er die Frauen mit. Ich wusste nicht weiter. Meine Augen brannten, die Hände wurden schweißig, in der Lunge Nadelstiche. Als mir Sonja dann noch riet - ich hatte sie einst als meine Vertraute gesehen -, ich müsse doch nichts weiter tun als in der Küche sitzen, Tee trinken, rauchen oder spazieren gehen, mir aber keinesfalls Sorgen machen, befreite ich mich aus ihrer Umarmung und stürzte hinaus. Unglücklicherweise erwischte ich den hereinhuschenden Blintschik, als ich die Redaktionstür zuschmiss. Scheußlich schrie der Kater auf, und die Frauen liefen jammernd herbei.
Weniger wütend als ratlos berichtete ich endlich meiner Firmenleitung im wöchentlichen Fax. Ich formulierte zurückhaltend, mehr in Andeutungen. Das aber musste ich tun, um abgesichert zu sein, wenn eines Tages die Stuttgarter vor der Tür stünden. Wie sollte ich ihnen unser Chaos erklären, ganz davon zu schweigen, dass ich selbst darunter litt. Noch am selben Abend, man bedenke, es war Freitag, erhielt ich einen Anruf. Ich wurde mit dem Geschäftsführer verbunden. "Ruhe!" brüllte ich in den Raum und machte mich auf alles gefasst. Diplomvolkswirt Schäfer war kein Mann von Verbindlichkeiten und erklärte mir kurz, nachdem es schien, als müsse er sich daran erinnern, warum er mich angerufen hatte, dass ich über einen Kurier das nötige Geld erhalten werde. Ich solle alles vorbereiten, damit der Kauf noch in diesem Jahr zustande käme, "oder datieren die Russen auch zurück?" Ich fragte, ob er da nicht etwas verwechsle, ich hätte ihn nicht um Geld gebeten. "Nein, wieso?" erwiderte er. Die Zeitung laufe nicht schlecht - Immobilien zu kaufen sei nie verkehrt. Ich solle eine weitere Wohnung erwerben, dort aber von Anfang an eine Arbeitsorganisation nach westlichem Standard durchsetzen. Effektivität als Grundlage zur Marktführerschaft! "Wozu haben wir Sie sonst geschickt?" Ich hörte ihn auflachen. "Und unsere Wohnung?" fragte ich erregt. "Die überlassen Sie den Frauen. Oder wollen Sie die etwa da rausschmeißen?" Ich verneinte, er wünschte mir ein schönes Wochenende, ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes und erfolgreiches neues Jahr. Ich wünschte ihm dasselbe. Als ich aufgelegt hatte, begegnete ich den erwartungsvollen Blicken der Belegschaft. Ich aber schwieg, öffnete seit Monaten wieder die Balkontür, trat hinaus in die friedlich treibenden Schneeflocken und zündete mir eine Zigarette an. Wie festlich waren die Paläste um uns her erleuchtet. Wie glänzte, wie glitzerte der endlose Newski. Allmählich verschwammen die Lichter. An meinen Waden rieb sich Blintschik.